Mein kleiner Bruder

Mein kleiner Bruder Stefan ist neun Jahre jünger als ich und dadurch hat sich die Beziehung zwischen uns im Laufe seiner kurzen Lebenszeit ziemlich verändert.

Als Stefan und Carina noch klein waren, musste ich einerseits oft auf sie aufpassen und andererseits hab ich die beiden überall mit hingeschleppt:
Mal ins Kino, mal ins Hallenbad, mal zum Schlittenfahren, mal mit auf eine Party....
Naja, so bin ich dann halt in die Rolle der großen Schwester reingeschlittert, die Stefan auch manches mal tierisch mit Ihren Ermahnungen genervt hat. Aber mit den Jahren wurde der große Altersunterschied zwischen uns immer kleiner. Nee, natürlich nicht tatsächlich kleiner, aber unsere Interessen haben sich immer mehr angenähert: Er wurde vom kleinen Bruder zum Kumpel. Während meiner Studienzeit außer Haus, wurden die unzähligen Gespräche mit Stefan am Wochenende zu einem festen Bestandteil.

Nicht verändert hat sich seine meist ruhige und zugleich beredte Art:
Bereits als kleiner Kerl plapperte er fröhlich in seinem Gitterbettchen vor sich hin und war mit sich und der Welt zufrieden. Damals war unser Vater davon überzeugt, dass er mal „Pfarr“ wird.
Das sinnlose Geplapper aus Kindertagen hat er im Laufe der Zeit mit immer mehr Wissen ausgefüllt. „Meine Bildung hab ich aus dem Fernsehn“ war einer seiner Lieblingssätze.
So konnte man sich mit Stefan über Gott und die Welt unterhalten und nebenbei noch einiges dazu lernen. Natürlich hat er einem auch gern mal aufs Butterbrot geschmiert, dass man selber keine Ahnung hat.
Seine ruhige Art hat mich manches Mal auch ordentlich geärgert:
Wollte man irgendwo hingehen, wer war noch nicht fertig? Stefan. Mit zunehmendem Alter und Selbstbewusstsein hat er seine „Ruhe“ als sein unverkennbares Markenzeichen erkannt und gepflegt. Selber zur Verzweiflung getrieben hat ihn wohl mehr seine Unentschlossenheit. Wochenlang konnte er das Für und Wider bei anstehenden Entscheidungen abwägen. Von außen betrachtet mag das wohl überlegt aussehen, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass einen die Unentschlossenheit tatsächlich wahnsinnig machen kann. Scheint wohl doch familiär bedingt zu sein.
Als Nesthäkchen konnte es sich Stefan leisten manches beinahe zu verbummeln, denn irgendjemand war bestimmt da, der dann die Kohlen wieder aus dem Feuer holte.

Neben Fernsehen und Computer spielte für ihn vor allem der Sport eine große Rolle: Von Fußball, über Leichtathletik, Schießen, Laufen und Triathlon hat er alles ausprobiert bzw. gemacht. So breit gefächert wie seine sportlichen, waren auch seine übrigen Interessen: Mal hat er sich bis ins letzte Detail für Ziegen interessiert, mal war’s das alte Motorrad vom Opa, mal die Autorennbahn, mal das Pflanzen eines Baums, mal die Schülerzeitung,....

Wer Stefan für mich ist, lässt sich nur schwer mit Worten ausdrücken, vielmehr ist es ein Gefühl, das ich mit ihm verbinde.
Obwohl wir in vielen Dingen sehr verschieden sind, haben wir uns dennoch gut verstanden. Können den anderen mit seinen Macken akzeptieren, haben eine gemeinsame Basis, die unser Verhältnis so herrlich unkompliziert hält.
Meine Geschwister Stefan und Carina stehen mir auf ganz besondere Weise nahe, auch wenn mein kleiner Bruder nun unendlich weit weg ist.

Für unseren Zwerg, der schon lange kein Zwerg mehr war.....

 

 

Bianca Gülch