Trauerpredigt für Stefan Gülch

gehalten am 7. Januar 2005 von Pfarrer Wolfgang Gapski


Liebe Familie Gülch,
liebe Anverwandte,
liebe Trauergemeinde.

Der Tod eines Kindes ist wohl der schlimmste Schicksalsschlag, den eine Familie treffen kann. Das ist furchtbar, sagten mir Gemeindeglieder in den letzten Tagen; das ist traurig, und, es geht einem nicht aus dem Kopf. Und nicht Wenige unter Ihnen, liebe Trauernde, standen am 23. Dezember selber im Stau, nachdem der schreckliche Unfall passiert war, nicht ahnend, wen es getroffen hatte.

Stefan Gülch und seine Schwester Carina erlitten so schwere Verletzungen, dass sie ins künstliche Koma gelegt werden mussten. Sie, liebe Familie Gülch, haben Ihren Stefan und Ihre Carina so oft wie möglich besucht. Die Anspannung an solchen Tagen ist allumfassend, quälend, es gibt kaum ein Aufatmen. Das Hin und Her von Hoffnung und Verzweiflung ist schier unerträglich. So eine hochmoderne Klinik wie in Göppingen oder Ludwigsburg ist ja alles andere als ein Ort mit angenehmem Flair. Zwischen Krankenbetten, Infusionsflaschen, Monitoren und den besorgt geschäftigen Gestalten in weißen oder blauen Kitteln ist keine Atmosphäre für Entlastung oder innere Ruhe. Aber Stefan und Carina, die dort lagen, brauchten noch im Koma die Stimme der Eltern um sich und Ihre Gegenwart. Während Carina nach einigen Tagen wieder Leben zeigte, ist Stefan nicht mehr aufgewacht. Es ist hart, wenn man dem eigenen Kind beim langsamen Sterben zuschauen muss. Da bäumt sich doch etwas in uns auf: ein Jugendlicher ist doch ein Bündel von Vitalität, Hoffnung und Lebenserwartung, voll Fragen und Pläne für die Zukunft; er will Türen aufmachen, hinter denen die Welt wartet! Und das alles welkt leise weg wie eine Blume, die vom großen Strauß aus der Vase gefallen ist und nun auf dem Tisch liegt und kein Wasser mehr hat.

Und wenn Sie, liebe Familie Gülch, in diesen Tagen nach Hause kommen, dann ist es doch so: noch atmet alles seine Gegenwart, der Tisch, der Stuhl, das Bett. In jedem Raum ist er noch da. Oft möchten Sie ein Gespräch mit ihm beginnen - nur, Worte können ihn nicht mehr erreichen. Immer wieder trüben Tränen den Blick, hadern Sie mit dem Schicksal, das sie trennte; brechen Fragen um das Sterben auf.

Auf manchen Friedhöfen ist immer wieder zwischen den Grabsteinen das Symbol der abgebrochenen Säule zu entdecken. Ein Zeichen gegen das frühe Sterben eines Menschen. Wer kann schon begreifen, warum der Tod so viele zur Unzeit überrascht? Wir denken: eigentlich könnte Stefan doch noch unter uns sein. Wir hätten noch so viele Möglichkeiten für ihn in seinem Leben gesehen. Und wir wünschten, dass er sie noch alle verwirklichen könnte.

Jetzt stünden an 

- die Berufsorientierung im Betrieb, in einer Druckerei
- die Fächerwahl in der Schule für die Oberstufe
- das Deutsche Turnfest in Berlin.

Stefan hatte viele Interessen. In seinen jungen Jahren hat er vieles ausprobiert, was das Leben für dieses Alter bietet: den Motorradführerschein, den Schüleraustausch mit Amerika im vergangenen Herbst, Politik und Diskussionen, die Mitarbeit im elterlichen Hof und immer wieder die Turnfeste in Leipzig, Konstanz und anderen Städten. Aber an seine Zukunft denken tut weh! Denn seine Hoffnungen und unsere Wünsche für ihn sind jetzt abgebrochen wie eine Säule, die in der Mitte zerbricht. Ein Ende - mitten im Leben. Mitten im Leben vom Tod umgeben.

Liebe Trauergemeinde,
jährlich sterben bei uns in Deutschland etwa 25.000 Kinder und Jugendliche. Die Angehörigen stürzen in eine tiefe Krise. In den Tagen nach der Beerdigung tritt ein Chaos von Gefühlen an die Oberfläche: Jammer, Wut und Schmerz. Du kannst keinen klaren Gedanken fassen. Du willst es nicht glauben. Ich war zu Hause - sagte eine Betroffene, habe gegessen, habe getrunken, habe geweint, habe gelacht - aber was ich getan habe, weiß ich nicht wirklich. Ich war einfach nur todtraurig.

Nach einem solchen Schicksalsschlag benötigen die Betroffenen Hilfe und Unterstützung. Oft tritt jedoch das Gegenteil ein. Nicht selten zeigen Freunde, Nachbarn und Bekannte Unsicherheit und Hilflosigkeit. Was sie nicht bedenken: wie verletzend es für Eltern ist, von Bekannten gemieden zu werden, nur weil denen der Kontakt unangenehm ist. Wie oft wurde ich in den letzten Tagen gefragt: wie soll ich mich verhalten? Ja, eine Betroffene hat erlebt: Arbeitskollegen haben die Straßenseite gewechselt, wenn wir uns begegnet sind, um nicht mit mir reden zu müssen. Man fühlt sich wie in eine künstliche Welt versetzt. Solches Verhalten kommt nicht von ungefähr. In unserer auf Leistung und Erfolg ausgerichteten Gesellschaft haben Themen wie Tod und Trauer keinen Platz. In einer Welt der unentwegt Tüchtigen ist es schwer nur auszuhalten, machtlos dem ganzen Jammer ausgeliefert zu sein und nichts mehr machen zu können.

Mancher mag denken, die Zeit heilt alle Wunden. Die Zeit an sich heilt gar nichts. Und, liebe Familie Gülch, trauen Sie nie dem gut gemeinten Rat, "abzuschalten" oder "an etwas anderes zu denken". Warum sollten Sie! Da müssten Sie auch die guten Erinnerungen, die schönen Bilder von Ihrem Stefan beiseite schieben. Wie Dietrich Bonhoeffer schreibt: "Es gibt nichts, was uns die Abwesenheit eines lieben Menschen ersetzen kann auch Gott füllt diese Lücke nicht aus, sondern er hält sie gerade unausgefüllt.“ Die Erinnerungen also pflegen, hilft mehr, als sie nicht pflegen. Das gibt Nähe. Stellen Sie sich dem - den vielen schönen Ereignissen vor Stefans Tod und den schweren Stunden danach. Im übrigen holt einen die Trauer so und so wieder ein.

Trauern - das heißt, nichts verdrängen. Immer wieder über den Schmerz sprechen. Immer wieder das Fassungslose versuchen, in Worte zu fassen. Denn gerade das Reden ist eine Hilfe zum Leben, zum Überleben.

Trauern - das heißt, immer wieder wird es Sie ans Grab von Stefan ziehen. Es ist kein Ort des Schreckens. Im Gegenteil: hier finden Sie Frieden und Zugang zu ihm, können mit ihm reden im stummen Zwiegespräch - fernab von Pflichten und Nachbarn.

Vielleicht nehmen Sie irgendwann einmal das Bild mit dorthin, das das Neue Testament uns zeichnet: als die Ostersonne nach Karfreitag aufgeht, verwandelt sie das Kreuz in das Zeichen der Auferstehung. Das heißt, Christus verlässt die, die wir der Erde anvertrauen, nicht. Für ihn ist der Tod keine Grenze mehr. Er bleibt denen nahe, die von uns gegangen sind. Stefan Gülch ist jetzt gegangen, einem Weg folgend, dem keiner sich verweigern kann. Aber erwartet wird er von dem, der ihn ins Leben rief.

Im Sommer 1991 verlor der Sänger und Gitarrist Eric Clapton durch einen Unfall seinen kleinen Sohn. Den Schmerz und seine Gedanken darüber drückte er in dem bekannten Song aus: no more tears in heaven. Dort sagt er mit dem Blick auf sein Kind: ich weiß, dass es im Himmel keine Tränen mehr gibt. Und mit Blick auf sich selber: ich muss stark sein und weitermachen. Denn ich weiß, i c h gehöre noch nicht in den Himmel.

Amen.